In einem lesenswerten Essay über utopische Science-Fiction schreibt Kim Stanley Robinson:

The problem, however, with this and all other utopian alternatives, is that we can’t imagine how we might get there. We can’t imagine the bridge over the Great Trench, given the world we’re in, and the massively entrenched power of the institutions that shape our lives […] [I]t’s not utopia we can’t imagine, but history. Future history, the history yet to come.

In der Marstrilogie („Roter Mars“, „Grüner Mars“, „Blauer Mars“, ein Science-Fiction-Epos, das zwischen 1993 und 1996 entstanden ist) gelingt es Robinson, genau das doch vorstellbar zu machen. Die von ihm erdachte Zukunft ist bei Weitem nicht ohne Probleme und Schwierigkeiten, aber durchdrungen von der humanistischen Hoffnung auf eine menschenwürdige (marsianische) neue Weltordnung, die mich als Leser so schnell nicht wieder loslassen wird.

Die Geschichte beginnt im Jahr 2026 – eine Mannschaft von 50 Wissenschaftlerinnen und 50 Wissenschaftlern bricht auf, um die erste permanente bemannte Basis auf dem Mars zu errichten. Das Buch begleitet sie durch die Jahrzehnte, während der Mars sich vom unbelebten Forschungsobjekt zunächst zur gerade so bewohnbaren, spärlich besiedelten Erden-Kolonie und schließlich zu einer unabhängigen, tatsächlich mehr als atemberaubend anderen Welt wandelt.

Robinsons Schreibstil ist unprätentiös, aber gekonnt; besonders beeindruckend sind die Perspektivwechsel. Zu Beginn ist jedes Kapitel aus der Sicht eines anderen der „Ersten Hundert“ geschrieben. Dabei ist nicht nur die wissenschaftliche Genauigkeit bei der Beschreibung der Gedanken der Physiker, Psychologen, Geologinnen, Ingenieurinnen usw. beeindruckend, sondern vor allem die lebhafte Ausgestaltung ihrer unterschiedlichen Überzeugungen, Agendas und Temperamente. Da sich die ersten Kolonisten nach jahrelangem Zusammenleben auf engem Raum in- und auswendigkennen, kann jeder von ihnen auch einen einzigartigen Blick auf die anderen Hauptfiguren bieten. Selbst nachdem man etwa die russische Kommandantin Maya Toitovna über Hunderte von Seiten aus ihrer eigenen Sicht, der ihrer besten Freundin, ihrer Liebhaber und ihres Psychiaters kennengelernt hat, kann man in späteren Kapiteln durch die Augen anderer alter Freunde immer noch Neues über sie erfahren, das kein anderer gesehen oder für wichtig befunden hat.

Was die unterschiedlichen Überzeugungen angeht, steht vor allem ein Thema im Mittelpunkt: Terraforming. Soll der Mars so bleiben wie er war oder soll er der Erde angeglichen werden? Schon unter den ersten Hundert bilden sich schnell tief gespaltene Lager in dieser Frage, und die ersten (auch auf der Erde im TV übertragenen) Auseinandersetzungen zwischen der Geologin Anne Clayborne, die um jeden Preis den roten Mars erhalten will, und dem Pro-Terraformer Sax Russell werden noch Jahrzehnte und Jahrhunderte später ganze Subkulturen und politische Bewegungen prägen (wo „rot“ und „grün“ naheliegenderweise neue Bedeutungen bekommen). Im Gegensatz zur Erde fällt im Hinblick auf den Mars Umweltschutz nicht mit der Erhaltung von Biodiversität zusammen: Wer die ursprüngliche Schönheit des Mars erhalten will und dafür ist, dass seine einzigartigen Landschaften erfahrbar und erforschbar bleiben sollen, der ist gleichzeitig dagegen, den Planeten belebt, bewohnbar und eben grün zu machen. Die gegensätzlichen Positionen sind aus der Sicht ihrer jeweiligen Vertreter völlig schlüssig und überzeugend beschrieben, aber letztlich unvereinbar. Diese dauernde Reibung bildet den Hauptbogen der Geschichte, sowohl auf gesellschaftlicher, als auch auf persönlicher Ebene in den Leben der Hauptfiguren.

Ein weiteres wichtiges Thema ist von Anfang an die Möglichkeit einer völlig neuen gesellschaftlichen Ordnung. Schon bei Aufbau und Organisation der allerersten Koloniegebäude werden sämtliche Vorschriften der Raumfahrtbehörden ignoriert, um durch innovative Architektur neue Formen des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit zu ermöglichen. Später, als immer mehr Leute einwandern, müssen ähnliche Entscheidungen in viel größerem Maßstab getroffen werden: Wie unabhängig will man von der Erde sein, und wie soll das Zusammenleben organisiert werden? Eigentlich könnten die Ausgangsbedingungen für einen postkapitalistischen Neuanfang kaum besser sein: auf dem Mars leben zumindest zu Anfang nur relativ wenige Leute, die allesamt hochmotiviert und aufgeschlossen sind (auch wenn notwendigerweise alle in irgendeiner Form verrückt sind – schließlich haben alle ihr gesamtes Vorleben auf der Erde für immer zurückgelassen) und die Erde mit ihren ausbeuterischen Ambitionen bezüglich der Marsressourcen ist sehr weit weg. Statt jedoch gleich zur utopischen Zukunft zu springen, erzählt Robinson – was selbst in der Science-Fiction-Literatur selten vorkommt – den unendlich mühsamen, jahrhundertelangen Weg dorthin: erste Ideen und Visionen, Zerstrittenheit mit der Erde und untereinander, Unabhängigkeitsbemühungen, Untergrundorganisationen, Aufstände, blutige und unblutige Revolutionen, politische Überzeugungsarbeit, das Ringen um eine Marsverfassung mit sämtlichen ökonomischen und rechtlichen Details, der Umgang mit Flüchtlingsströmen von der ökologisch kollabierenden Erde, und immer wieder: endlose Diskussionen.

Für die drei je 1000-seitigen Bände muss man einiges an Ausdauer mitbringen. Was sich mitunter etwas zieht, sind die ausschweifenden Beschreibungen des Planeten und des Terraformingprozesses. Aber vor allem, wenn es um kleine Erlebnisse der Mars-Andersartigkeit geht, sind wunderschöne Momente dabei, etwa wenn die Marsianer erstmals ohne Raumanzug die transparenten Kuppeln verlassen können und bemerken: zum ersten Mal passt der Wind, den man im Gesicht spürt, zu den Wolkenbewegungen, die man am Himmel sieht. Wer wie ich auch eine zu eingeschränkte Vorstellungskraft hat um sich die marsianischen Handlungsorte im Detail vorzustellen, dem sei empfohlen, sich NASA-Bilder dazu anzuschauen.

Es gibt erstaunlich wenige Stellen, an denen man aus der Geschichte gerissen wird, weil Ideen oder Begriffe von der Gegenwart überholt wurden oder unplausibel wirken; meistens hatte Robinson ein ungewöhnlich gutes futuristisches Gespür. Zum Beispiel könnte die Gewohnheit der Marsbewohner, beim Einsteigen in einen Zug erstmal das Headset aufzusetzen und auf dem „Pad“ Informationen abzurufen, von heute stammen. Irritierend fand ich fast nur die Baugeschwindigkeit – ok, sie haben Bauroboter, aber wie die Gebäude und Städte aus dem Boden sprießen, wirkt schon wahnsinnig schnell (wenn man in Berlin wohnt).

Die Marstrilogie ist eine Mammutaufgabe, die Rezensionen zufolge auch von nicht wenigen Lesern abgebrochen wird. Im Klappentext behauptet Arthur C. Clarke aber, dass „jeder Bewohner des Planeten Erde“ diese „mehr als atemberaubenden“ Romane gelesen haben sollte, und das sehe ich genauso. Für mich wird es auch Zeit, mehr von Robinson zu lesen (ich kenne sonst bisher nur die surreale Erzählung A Short, Sharp Shock, die kaum weiter von der Sachlichkeit der Marstrilogie entfernt sein könnte, aber einen ähnlich bleibenden Eindruck hinterlassen hat), etwa die dieses und letztes Jahr erschienenen Romane New York 2140 und Aurora. Ich werde berichten.

(Mars-Bilder von: NASA)