Am bekanntesten unter den Kurzgeschichten in diesem Band dürfte jetzt „Story of your life“ sein – der Film „Arrival“ basiert darauf. Aber wie sind eigentlich die anderen Stories so?

In gleich mehreren davon geht es um neue Dimensionen des Wahrnehmens und des Denkens, in die Leute vorstoßen. Ihre kognitiven Fähigkeiten werden erweitert (durch neurologische Therapien wie in „Understand“), reduziert (durch blockierende Implantate wie in „Liking what you see: a documentary“) oder radikal verändert (durch Kontakt zu fremden Wesen wie in „Story of your Life“), und Chiang erforscht in einer bemerkenswerten Detailtiefe, was das mit ihnen macht.

„Understand“ handelt von einem Patienten, der bei einem Unfall schwerwiegende Gehirnschäden davongetragen hat. Durch eine neuartige Behandlungsmethode, die das Neuronenwachstum anregt (und von der er sich selbst eine Überdosis verpasst), kann er nicht nur wiederbelebt werden, sondern ist plötzlich zu Dingen in der Lage, die er vorher nicht konnte. Es ist ihm nicht nur ein Leichtes, in der Welt um ihn herum komplexeste Muster zu durchschauen, sondern vor allem auch alle in ihm selbst ablaufenden Prozesse zu erkennen und zu kontrollieren. So erlangt er absolute Körperbeherrschung, bis hin zu gezielter Weitung der Pupillen oder Beschleunigung des Herzschlags. Die Geschichte gipfelt in der Begegnung zwischen zwei solchen Menschen und in einem Showdown zwischen ihnen, bei dem sie durch kontrolliert ausgesendete physische Signale versuchen, tödliche körperliche Reaktionen im anderen hervorzurufen oder durch das Triggern bestimmter Erinnerungen oder Gedanken fatale Denkschleifen auszulösen (einer von ihnen stellt die faszinierende Behauptung auf, es gebe für jeden Menschen ein Wort, das ausreicht um ihn umzubringen). Die Metaperspektive, aus der der Protagonist seine inneren Vorgänge beobachtet, analysiert und steuert, ist etwas, das Chiang außergewöhnlich bildlich beschreibt und das ich so noch nicht gelesen habe. Obwohl das Chiang zufolge eine seiner frühesten Geschichten ist und nach mehreren Ablehnungen fast unveröffentlicht geblieben wäre, war sie für mich eine der stärksten in diesem Band.

In „Liking what you see“ steht dagegen die gezielte Abschaltung einer kognitiven Funktion im Mittelpunkt. Im Stile einer Dokumentation kommen Schüler, Eltern und Angestellte einer Highschool zu Wort, an der ein Experiment läuft. Die Jugendlichen werden einer Prozedur unterzogen, bei der eine sehr genau eingegrenzte Hirnläsion simuliert wird, die zu sogenannter Calliagnosie führt. Chiang orientiert sich hier an real existierenden Agnosien, etwa der Prosopagnosie, bei der die Betroffenen die Fähigkeit der Gesichtererkennung verlieren (obwohl der Sehsinn nicht beeinträchtigt ist und sie die einzelnen Bestandteile von Gesichtern erkennen können). Bei Chiangs Calliagnosie verlieren die Schüler zeitweise den Sinn für physische Attraktivität (beim Erreichen des Erwachsenenalters können sie es rückgängig machen lassen). Den Befürwortern des Eingriffs zufolge führt dieser zu weniger Mobbing, mehr Chancengleichheit, besserer Konzentration aufs Lernen. Den Gegnern zufolge wird den Schülern die Möglichkeit genommen zu lernen, mit Unterschieden im Aussehen umzugehen, wenn sie dafür blind gemacht werden. Obwohl durch den Dokumentationsstil die Frage aus vielen verschiedenen Blickwinkeln ausgeleuchtet ist, bleibt doch Unbehagen über Chiangs Grundannahme, dass der größte Teil der Anziehungskraft von Menschen evolutionärbiologisch erklärbar auf Merkmale für Gesundheit und Reproduktionsfähigkeit zurückgehen soll. Auch etwas unangenehm aufgefallen ist mir der Hauptfaden der Dokumentation, der von den Erfahrungen einer Schülerin erzählt, die zunächst der Entfernung ihres „Callis“ entgegenfiebert; bis dahin war sie ein bescheidenes Mädchen, das von ihrer eigenen Schönheit nicht wusste. Kaum merkt sie aber (erleichtert), dass sie gut aussieht, nutzt sie das aus, um in einem Skypegespräch ihren (nicht so hübschen, wie sie jetzt feststellt) Exfreund zurückzugewinnen. Ein eigenartig gewählter Fokus – unter allen Problemen von Schönheitsidealen und Sexualisierung ist es am schlimmsten, dass schöne Mädchen gemein zu Jungs sind?

Trotzdem ist Chiangs Auslotung alternativer Formen der Wahrnehmung und des Daseins durchweg lesenswert. Einige der anderen Kurzgeschichten haben aber ein völlig anderes Thema, das man vielleicht so beschreiben könnte: Angenommen, es gäbe X wirklich: was würde passieren? Diesem Schema folgen die Geschichten „Tower of Babylon“, „Seventy-two letters“ (über Golems und Homunkuli) und „Hell is the absence of god“ (über Engel). Letztere ist davon die interessanteste: anstatt nur spielerisch auszugestalten, wie etwa eine Welt mit Golemfabriken genau funktionieren könnte (was auch Spaß macht), wagt die Engelgeschichte einen Blick in die Abgründe der Konsequenzen, die es für Menschen hätte, wenn Himmel und Hölle etwas wären, das man regelmäßig mit eigenen Augen sieht.

Bleibt noch die „Story of your Life“ – die hat aber ihren eigenen Beitrag verdient. Coming soon!

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