Diesmal geht es nicht um eine außerirdische Sprache mit ungewöhnlicher Grammatik, sondern mit ungewöhnlichen Gesprächsprinzipien. Das stellt eine Befremdlichkeit her, die unter die Haut geht.

Die Schnecke am Hang enthält zwei lose miteinander verbundene Geschichten.¹  Beide spielen auf einem fremden Planeten, auf dem sich ein weitgehend unerforschter, schwer zu durchdringender Wald befindet.² In der ersten Geschichten geht es um jemanden namens Pfeffer, der in einem von Menschen errichteten Außenposten am Waldrand versucht, inmitten eines komplizierten Verwaltungsapparats an einen Passierschein zu gelangen um den Wald betreten zu dürfen. Die zweite Geschichte erzählt von Kandid, einem Forscher, der alles versucht, um aus dem Wald heraus zu kommen. Obwohl Pfeffer Linguist ist und Kandid nicht, ist der letztere Teil in sprachlicher Hinsicht interessanter.

Kurz zur Handlung: Kandid ist vor Jahren im Wald abgestürzt und wurde dort in eine einheimische Dorfgemeinschaft aufgenommen. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind die meiste Zeit damit beschäftigt, Pflanzen und Pilze zu tilgen, die sonst alles zu überwuchern drohen (ihre Landwirtschaft dreht sich also vielmehr um Ausmerzen als um Anbauen). Außerdem müssen sie sich gegen „Diebe“ und „Totenmenschen“ zur Wehr setzen, die das Dorf regelmäßig heimsuchen. Kandid versucht seit er dort gelandet ist den Weg aus dem Wald hinaus zur Forschungsstation zurückzufinden. Alleine ist das nicht zu schaffen, deswegen ist er auf die Dorfbewohner angewiesen, deren träges und ununterbrochenes Gerede die Sache aber erschwert. Seit Ewigkeiten hat Kandid vor, „übermorgen“ aufzubrechen, aber es ist unmöglich, von irgendjemandem eine klare Wegbeschreibung oder gar eine verbindliche Zusage zum Mitkommen zu erhalten. Bei seinen Erkundungen trifft er mehr oder weniger zufällig noch auf völlig andere Wesen, die auch in diesem Wald leben, und die seine Perspektive auf die Dorfbewohner und sein Leben unter ihnen schließlich ändern.

Das gute Gespür der Strugatzkis für interessante Sprachbarrieren wird schon daran deutlich, als ein alter Mann von Kandids ersten Tagen im Dorf erzählt: Kandid habe die einfachsten Dinge durcheinander gebracht, konnte „Haus“ nicht von „Dorf“ unterscheiden, „Gras“ nicht von „Pilzen“ und die „Toten“ nicht von den „Lebenden“. Mir gefällt in diesem Zusammenhang auch, dass Kandid eins der Worte, die die Dorfbewohner verwenden, wenn sie über einen weit entfernen Ort sprechen, von dem fast niemand überhaupt weiß, ob er überhaupt existiert (möglicherweise unser Außenposten), für sich und uns als ‚Stadt‘ (in Anführungszeichen) übersetzt. Auf ähnliche Weise wird die vage Bedrohung für das Dorf, von der manchmal ohne nähere Details die Rede ist, von Kandid als ‚Erfassung‘ bezeichnet.

Das auffälligste an Kandid war für die Dorfbewohner allerdings von Anfang an, wie wenig er sagt – das hat ihm auch den Namen „Schweiger“ eingebracht. Es steht im krassen Widerspruch zum Geplapper der Dorfbewohner, das auf Kandid eine ermüdende und geradezu betäubende Wirkung hat. Darin zeigt sich ein potentieller Unterschied zwischen zwei Sprachen, der sonst selten berücksichtigt wird. Was hier anders ist, ist nicht nur was und wie gesprochen wird, sondern warum gesprochen wird.

Hier ein Beispiel für eine Wegbeschreibung, die einer der Dorfbewohner Kandid gibt:

Also, zur ‚Stadt‘ kommt man nicht durch. Zum Lehmfeld ist es ganz einfach: an den beiden Steinen vorbei, durch das Pilzdorf, dann durch das Verrücktendorf, und dann liegt rechter Hand das Lehmfeld. […] Ach, Schweiger, du sprichst immer viel zu wenig und viel zu kurz. Kaum hört man hin, machst du schon wieder den Mund zu. Aber zum Schilfdorf gehen wir. Morgen früh machen wir uns auf den Weg… […] Natürlich. Bis zur ‚Stadt‘? Ganz klar, da kommen wir durch. Und diese Töpfe da, ich weiß, wo du sie schon einmal gesehen hast…

Die Aneinanderreihung solcher für Kandid nutzlosen Redeschwalle erzeugt im Laufe der Geschichte ein Gefühl der Frustration und Ausweglosigkeit, aber auch eine schleichende Unheimlichkeit und Fremdheit – dass Kandid und die Dorfbewohner einander verstehen, scheint auf einer sehr fundamentalen Ebene unmöglich zu sein, aber es ist nicht leicht genau den Finger darauf zu legen, woran das liegt.

Hier ein Versuch. Wir auf der Erde folgen in der Regel bei Gesprächen einem bestimmten Prinzip: wir kooperieren, um zusammen zu ermitteln, was alles der Fall ist. Daraus ergeben sich einige Regeln, die der Sprachphilosoph Grice in verschiedene Prinzipien aufgedröselt hat: beispielsweise wäre es unkooperativ, absichtlich etwas Falsches zu sagen, Informationen zurückzuhalten, Dinge zu behaupten für die man keinerlei Belege hat, oder sich umständlicher auszudrücken als nötig.

T-Rex erklärt Grices Theorie (aus Dinosaur Comics von Ryan North, qwantz.com)³

Bei Kandids Dorfbewohnern scheint das anders zu sein. Sie sagen jede Menge Dinge, die offensichtlich nicht stimmen können (da sie sich ständig widersprechen, was beispielsweise die Wegbeschreibungen zum Verlassen des Waldes angeht), was sie sagen, könnte oft unklarer nicht sein, und vor allen Dingen scheinen sie immer so viel zu sagen, wie sie nur können.

Gespräche scheinen bei ihnen nicht in erster Linie dazu zu dienen, Sachverhalte zu diskutieren oder weiterzugeben. Sie reden anscheinend aus völlig anderen Beweggründen: vielleicht um Geselligkeit herzustellen, um die Stille zu füllen, zur Unterhaltung, zur Profilierung. Das könnte erklären, warum die Dorfbewohner bestrebt sind, immer so viel wie möglich zu sagen, selbst wenn sie sich nicht sicher sind oder wenn es offensichtlich nicht stimmen kann. Während wir in der Regel im Gespräch einer gemeinsamen Fragestellung folgen, scheint jeder Dorfbewohner sein eigenes Thema zu haben, zu dem immer wieder stur zurückgekehrt wird. Wenn ein Gesprächspartner eine Behauptung aufstellt, akzeptieren wir es in der Regel, oder wir stellen es in Frage und verhandeln dann darüber. Die Aussagen der Dorfbewohner bleiben dagegen dahingehend vage, sie werden geäußert, aber nicht unbedingt als wahr oder falsch bewertet. Sie sind aber auch nicht völlig beliebig: eine gewisse Verankerung in echten Geschehnissen ist schon vorhanden – nur deswegen hat Kandid vermutlich noch nicht völlig aufgegeben.

Während Kandid die Wörter und den Satzbau der fremden Sprache mit der Zeit ziemlich perfekt zu beherrschen gelernt hat, schafft er es einfach nicht, sich an die konversationellen Gewohnheiten anzupassen. Er gibt sich alle Mühe, was aber nicht zum Erfolg führt, sondern eher dazu, dass er langsam den Verstand verliert.

Kandid ließ ihn ausreden und sagte: „Hinker, versteh doch, ich muss nicht zum Schilfdorf. Zum Schilfdorf muss ich nicht. Ich muss nicht zum Schilfdorf. Verstanden?“ Hinker hörte aufmerksam zu und nickte. „Ich muss in die ‚Stadt'“, fuhr Kandid fort. „Wir sprechen schon so lange darüber. Gestern habe ich dir gesagt, dass ich in die ‚Stadt‘ muss. Vorgestern habe ich dir gesagt, dass ich die ‚Stadt‘ muss. Vor einer Woche habe ich dir gesagt, dass ich in die ‚Stadt‘ muss. Du hast gesagt, dass du den Weg weißt. Das hast du gestern gesagt. Und vorgestern hast du gesagt, dass du den Weg zur ‚Stadt‘ weißt. Nicht zum Schilfdorf, sondern in die ‚Stadt‘. Ich muss nicht zum Schilfdorf.“ Bloß nicht verwechseln, dachte er. Vielleicht verspreche ich mich ja die ganze Zeit. Nicht Schilfdorf, sondern ‚Stadt‘.

Warum sind die Dorfbewohner in dieser Hinsicht so verschieden von uns? Boris Strugatzki fasst im Nachwort die Idee hinter der Erzählung so zusammen:

Stellen Sie sich vor, auf einem Planeten leben zwei Arten vernunftbegabter Lebewesen. Und zwischen ihnen herrscht ein Kampf um Überleben, ein Krieg. Aber kein Krieg mit technischen Mitteln, wie er dem Erdenmenschen bekannt und vertraut ist, sondern ein biologischer, der für einen außenstehenden, irdischen Beobachter gar nicht wie Krieg aussieht […] Versumpfung, Dschungelbildung, auch Verkalkung […] Die Erdenmenschen kommen und finden sich – oje! – inmitten eines solchen Durcheinanders wieder, dass es unmöglich ist, jemandes zielgerichtete Handlungen von den krampfhaften Bewegungen der blinden Natur zu unterscheiden.

Das heißt, in der Welt der Dorfbewohner passieren Dinge die meiste Zeit aus unklaren Gründen und scheinbar arbiträr, sie folgen nicht immer klaren Gesetzmäßigkeiten. Sie leben in einem Zustand, in dem sie ständig von der Auslöschung bedroht sind, ohne verstehen zu können, worin diese genau besteht und was man dagegen tun kann. Informationen von außen gibt es nicht, es bleibt nur, innerhalb der kleinen Gemeinschaft die wenigen Anhaltspunkte, die man hat, immer und immer wieder aufs Neue durchzukauen. Aus dieser Art des Daseins ergibt sich konsequenterweise ihre Art des Sprechens.

Für mich stellt Die Schnecke am Hang eins der bestumgesetzten Beispiele dafür dar, dass Sprachen sich auch auf einer Ebene unterscheiden können, die über Grammatik und Wortschatz hinausgeht, und die in der Science Fiction nicht oft berücksichtigt wird. Zusammen mit anderen befremdlichen Elementen in Kandids Wald (etwa den oben erwähnten Totenmenschen, deren Körper von Grastilger zerfressen und so heiß sind, dass die Erde unter ihnen qualmt, und die statt sich umzudrehen ihre Vorderseite nach hinten stülpen) sowie dem Verwaltungsalbtraum im anderen Erzählstrang ergibt sich eine außergewöhnlich zermürbende und verstörende Atmosphäre.

Spinnt man die Grundidee weiter, könnte man auch erwarten, dass die Dorfbewohner bestimmte weitere Abweichungen in ihrer Sprache zeigen. Viele Bedeutungskomponenten unserer Sätze ergeben sich aus den Konversationsprinzipien (wie schon T-Rex weiter oben demonstriert hat). Ist aus rein prädikatenlogischer Sicht ein Satz wie „Einige Leute hier sind nett“ etwa auch dann wahr, wenn alle Anwesenden nett sind, würde man als Mensch den Satz eher nicht so verstehen. Man geht davon aus, dass die Person, die den Satz äußert, kooperativ und somit so informativ wie möglich ist – das heißt, sie wird ihre Gründe gehabt haben, nicht „alle“ zu sagen. Wenn jemand sagt, er habe „einen Ort aufgesucht um dort gegen ein Gehalt Tätigkeiten zu erledigen“ statt einfach nur zu sagen „Ich bin arbeiten gegangen“, lesen wir sofort unwillkürlich eine besondere Bedeutung in die umständliche Ausdrucksweise hinein, selbst wenn es wörtlich genommen ungefähr dasselbe ist. Grice⁴ nannte solche Bedeutungskomponenten „Implikaturen“. Wenn man von anderen Welten erzählt, auf denen Konversationen anders geregelt sind, würde man auch andere Implikaturen erwarten.

Ich finde die Schnecke am Hang auf mehrere Weisen außergewöhnlich konsequent und schlüssig: sowohl als Erforschung der Frage, wie fremd einem eine außerirdische Sprache theoretisch sein könnte, als auch als Beobachtung über mögliche zwischenmenschliche Unterschiede und deren Gründe. Ich würde mir wünschen, dass mehr menschliche Heldinnen und Helden in der Science Fiction bei ihren interplanetarischen Begegnungen auf ähnlich grundlegende Probleme stoßen würden wie Kandid.

Fußnoten:

¹ Zumindest in der Version, die ich gelesen habe – es gibt verschiedene frühere Versionen, die zum Teil nur eine der Geschichten enthalten oder andere Protagonisten haben.
² Ein solcher dicht bewaldeter Planet mit seltsamen Bewohnern kommt bei den Strugatzkis häufiger unter dem Namen Pandora vor. James Cameron scheint sich eine Scheibe davon abgeschnitten zu haben.
³ Hier ein weiterer Dinosauriercomic zum Thema. Ich weiß nicht, warum T-Rex so davon besessen ist, dass Grice tot ist. Gefunden via Tales of an eLinguist.
⁴ Grice ist tot.

Weiterlesen:

Beitragsbild: Malacolimax tenellus Austria, Kärnten, Nockberge, adult
von Johannes Volkmer, CC BY-SA 4.0

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