Die erste Mission: eine Leiche zu einem Krematorium transportieren. Die Ausrüstung: ein Fötus, den man an sich anschließen kann, und der einen vor unsichtbaren Geistern warnt. Die NPCs: Léa Seydoux und Guillermo del Toro. Schon die ersten Minuten von Death Stranding machen klar, um was für ein eigenartiges und einzigartiges Spiel es sich handelt.

Das Ganze spielt in einem postapokalypischen Setting, in dem die Infrastruktur von Nordamerika zusammengebrochen ist. Die nötigsten Lieferungen müssen zu Fuß gemacht werden. Genau das ist der Beruf von Sam Porter Bridges, in dessen Rolle man schlüpft. Death Stranding gibt der Genrebezeichnung „Walking simulator“ eine ganz neue Bedeutung: die ausgefeiltesten Spielmachaniken betreffen alle das Transportieren von Sachen durch unwegsames Gelände. Die Steuerung und Physik davon ist fantastisch. 1000kg Gepäck verschwinden nicht einfach spurlos im Inventar, sondern wollen auf Rücken, Hüften, Schultern und eventuellen Zusatzwägelchen verteilt werden. In schwierigem Gelände zählt jeder Schritt. Man muss auf die Gewichtsverlagerungen achten, wenn die Ladung auf dem Rücken hin und her schwankt. Man darf beim Bergablaufen nicht zu viel Schwung aufnehmen (es sei denn man möchte den Adrenalinstoß nutzen, den man dabei bekommt). Und beim Überqueren von Bächen sollte man die Hände frei haben um sich besser ausbalancieren zu können.

 
Vorsichtig, Sam!

Etwas unausgegorener sind die Mechaniken, die mit der Ausrüstung und mit dem Ausliefern zu tun haben. Schon ganz zu Anfang des Spiels gibt es beispielsweise viele Hinweise darauf, dass es entscheidend sein könnte, immer ein Ersatzpaar Schuhe dabei zu haben: es gibt eine prominent platzierte Leiste, die die Abnutzung des aktuellen Paars anzeigt und einen Extra Schuhclip für das Ersatzpaar am Arbeitsoverall. Außerdem ist die Landschaft übersät von Sandalenpflanzen, deren sohlenförmig geformten Auswüchse man wohl im Notfall verwenden könnte, wenn einem die Schuhe auseinanderfallen. Vermute ich zumindest – passiert ist das nämlich nicht ein einziges Mal, weil (auf der Standard-Schwierigkeitsstufe) die Abnutzung des Ausrüstung so langsam voranschreitet, dass man immer locker rechtzeitig das nächste Ziel erreicht. Ähnlich ist es mit Wärme-Akkus, die einem helfen sollen im Hochgebirge nicht außer Puste zu kommen, und die aber für die kurzen Aufenthalte in entsprechender Höhe nicht wirklich nötig sind, und so weiter. Die schiere Menge an spezialisierten Ausrüstungsgegenständen suggeriert da mehr Spieltiefe als eingelöst wird.

Enttäuschend oberflächlich sind auch die Szenen umgesetzt, in denen man seine Lieferung dann aushändigt. Ein wichtiges Konzept beim Schreiben von Spieletexten ist Adaptivität: man bekommt vor allem dann das Gefühl mit der Spielewelt zu interagieren, wenn die Texte sich dem anpassen, was man als Spieler*in gemacht hat. In Death Stranding begrüßen einen die Empfänger (und die sehr vereinzelt vorkommenden Empfängerinnen) immer gleich, egal ob man gerade 200kg stundenlang durch eine Gebirgskette geschleppt hat oder ob man ein kleines Päckchen gleich neben dem Eingang aufgehoben und abgegeben hat. „I can’t believe you made it. You’re a hero, Sam!“

 
Das kommt davon, wenn man an den Feiertagen Screenshots macht.

Anderen Menschen begegnet man in dieser Postapokalypse fast nur indirekt. Die meisten sind in unterirdischen Bunkern oder Städten verschanzt und zeigen sich nur mittels Hologrammen. Die Standard-NPCs, denen man Pakete bringt, sind fast schon absurd generisch und eigenschaftslos („the engineer“, „the craftsman“, „the elder“), aber die Leute, die mit der Hauptstory zu tun haben, sind umso faszinierender: eine im Sterben liegende Präsidentin, ein hinter einer Maske verborgener „Die-Hardman“, ein künstlicher (?) „Deadman“, alle davon mit komplexen und zunächst im Dunklen liegenden Motivationen. Sie geben uns die Aufgabe, das Land von Küste zu Küste zu durchqueren und die Städte wieder an das „chiral network“ anzuschließen. Was das allerdings für ein Netzwerk war, warum es zusammengebrochen ist, und was das alles mit dem „Death Stranding“-Ereignis zu tun hat, ist ein verstörendes und saftiges Geheimnis, in das man immer tiefer eintaucht. Woher kommen die Geister, die sich an bestimmten Stellen in der Landschaft versammeln und einen in eine teerige Masse und in den Tod ziehen – sind es verstorbene Menschen, die halb zwischen den Welten hängen geblieben sind? Was steckt hinter den Föten, die anscheinend die Fähigkeit haben, Kontakt mit den Geistern aufzunehmen? Warum wachen wir immer wieder an einem Strand auf, wenn wir sterben? Warum entlädt sich neuerdings so viel Energie nach dem Tod eines Menschen, dass die Landschaft voller Krater ist?

Erzählt wird das ganze in einer Mischung aus technisch klingenden Abkürzungen („Die BBs stellen eine Brücke zwischen uns und den BTs her“) und Terminologie mit eher spirituellen Anklängen („Ihr Ha ist in unserer Welt geblieben, ihr Ka hat die Grenze überschritten“). Sprachliche Mehrdeutigkeiten werden aufs Vollste ausgeschöpft um überall reizvolle Querverbindungen herzustellen: das Wort „strand“ etwa begegnet einem ständig, im Sinne von Stranden und Gestrandetsein, und auch in der Bedeutung von Strang oder (Lebens-)Faden oder (Nabel-)schnur. Zur futuristisch-fantastischen Atmosphäre tragen auch der Soundtrack und die umwerfenden visuellen Effekte bei, etwa bei einigen auf Schwerelosigkeit basierenden Technologien oder beim häufig niederregnenden „Timefall“, der alles Lebendige im Zeitraffer altern lässt.

 
BB und BTs

Atmosphärisch und thematisch gelingt die gewagte Mischung aus Horror überraschend gut, und selbst der überzogene Humor fügt sich irgendwie ein (ich habe hier alle Spielaspekte ausgelassen, die mit dem Craften aus Körperausscheidungen zu tun haben). Spielerisch greift dagegen nicht alles so gut ineinander. Neben den Transportaufgaben gibt es auch Quests, in denen man etwa Gegenstände aus gegnerischen Camps entwenden muss. Dass tödliche Waffen in dieser Welt der Post-Mortem-Explosionen größtenteils ein No-Go sind, hat den positiven Nebeneffekt, dass man dabei nicht das gewöhnliche Blutbad anrichten muss, sondern die Gegner vorsichtig ausknockt und einschnürt. Die Steuerung ist bei den Kämpfen etwas unausgereift, man sieht nicht immer gut, worauf man zielt und ob man sich in guter Schussposition befindet. Das wäre bei den auslassbaren Nebenmissionen nicht so schlimm, aber man muss sich auf dieselbe hakelige Weise durch drei obligatorische Kriegsszenarien kämpfen, in die man durch temporale Verwirrungen gerät und die nicht gerade nahtlos mit dem Rest des Spiels verknüpft sind.

Nicht ganz ausgereift oder zu Ende getestet wirken auch diejenigen Stellen, an denen man wichtige Entscheidungen zu treffen hat. Mal ist klar, was zu tun ist, aber unklar, wie man es angehen soll, mal umgekehrt. In einer bezeichnenden Schlüsselszene wusste ich sogar weder, wozwischen ich mich eigentlich entscheide, noch wie ich diese Entscheidung überhaupt treffen soll. Sam ruft an dieser Stelle „Hey, wait! I don’t know what to do!“ und es fühlt sich wie eine Art dreister Metakommentar an, dass man dann alleine dasteht und herumprobieren muss, was man überhaupt machen kann, ohne recht zu wissen, ob es eine Alternative gegeben hätte. Ich mag es, wenn mich Spiele vor schwierige Entscheidungen stellen, aber die Schwierigkeit sollte mit dem Inhalt zu tun haben und nicht mit dem Interface.

Vagheit und Ambivalenz gibt es auch in Hinblick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auf positivere Weise. Die Konstellationen – zu Geschwistern und zu ungeborenen Kindern – sind an sich schon solche, die eher selten vorkommen, und hier sind sie durch die Sci-Fi-Elemente noch komplizierter und interessanter. Zunächst war mir nicht ganz klar, ob absichtlich oder unabsichtlich so vieles im Unklaren gelassen wird. War die verstorbene Präsidentin unsere Mutter? Sam scheint sich da komischerweise selbst nicht so sicher zu sein, und auch die Erinnerungen an die „Schwester“, die uns an der Ostküste erwarten, sind ziemlich verschwommen. Und was ist mit dem BB, das wir mit uns herumtragen und das uns immer mehr ans Herz wächst? Es stellt sich nach und nach heraus, dass es innerhalb der Geschichte Sinn ergibt, wie verloren Sam ist. Unwissenheit des Spielers und des Charakters gehen hier ziemlich harmonisch und effektvoll einher.

Ich bin nicht sicher, was Death Stranding genau ist, aber es ist was Neues, und das ist gut; oder zumindest setzt es bekannte Komponenten auf neue Weise zusammen und bettet sie in eine irrsinnige Geschichte ein. Dürfte ich etwas daran ändern, würde ich mir glaube ich einfach wünschen, dass sich das Spiel vollständig aufs Wandern und Transportieren konzentrieren würde und dass dieser Aspekt noch mehr perfektioniert worden wäre. Wenn es darum geht, einsam herumzuwandern, Pakete zu sammeln und hin und wieder „Is anyone there?“ in die ausgestorbene Welt zu rufen, könnte ich noch ein paar hundert Stunden so weiterspielen.