In der an Bizarrheit kaum zu überbietenden Anfangsszene von The Memory of Whiteness macht der Musikstudent Johannes Wright einen Drogenentzug mit Halluzinationen auf allen Sinnesebenen durch, während er sich im „Holywelkin-Orchester“ befindet. Letzteres ist eine Konstruktion aus allen möglichen gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Orchesterinstrumenten, die sich zu einem monströsen Gebilde auftürmen, das von einer Kabine im Inneren aus gesteuert wird. Nach der Entzugs-Erfahrung verliert Wright sein Augenlicht, wird aber zum Meister des Orchesters berufen. Dieser Anfang hält was er verspricht: im Verlauf des Romans folgen wir Wright auf seiner verstörenden Grand Tour von den äußersten Rändern des Sonnensystems bis hin zu seinem Zentrum.

Anfangs lernen wir Wright und seine Roadies kennen, aber schon bald stößt noch jemand zur Gruppe dazu. Es ist der typische Durchschnitts-Sonnensystem-Bürger, der die Funktion übernimmt, uns Einblick in Wrights Leben und Werk zu verschaffen, indem er sich einiges erklären lässt, was für Außenstehende sonst schwer zu verstehen wäre – eine ähnliche Rolle, wie sie Arthur Dent in Per Anhalter durch die Galaxis einnimmt, und auch hier heißt diese Figur zufälligerweise Dent (nur mit Vornamen). Dent Ios ist ein einfacher Musikfan und Zine-Autor von einem eher ländlich-idyllischen Planetoiden; nebenbei erfahren wir, dass es viele solcher Gemeinschaften gibt, die sich kleine Himmelskörper ganz nach ihren Bedürfnissen geterraformt haben. Durch die Gespräche zwischen Ios und Wright bekommen wir mit, dass das Orchester vom bedeutendsten Physiker des vierten Jahrtausends konzipiert wurde, und dass einige der bisherigen Orchestermeister bereits versucht haben, bestimmte Gesetzmäßigkeiten der modernen Physik in Musik zu übersetzen. Auch Wright verfolgt dieses Ziel: sein Werk, das während der Tour entsteht, soll die grundlegendsten Prinzipien der Holywelkinschen Physik für alle Zuhörenden unmittelbar erfahrbar zu machen.

Entsprechend groß ist die Wirkung der Konzerte. Sie werden allerdings immer wieder dadurch gestört, dass ein alter Widersacher Wrights versucht ihn zu sabotieren. Was zunächst wie kleine Streiche unter Rivalen wirkt, entfaltet sich schnell zu einem riesigen versponnenen Netz aus wahnsinnigen Psychospielen. Der Saboteur versucht Wright Weltanschauungen unterzujubeln, die den menschlichen Verstand übersteigen, und Wright setzt diese auch noch in Musik um und bringt sie dadurch unter die Leute. Trotz der komplizierten Intrigen wird es nie unübersichtlich: man weiß, wer welche Ziele verfolgt, aber man weiß (wie Wrights Crew) nicht, ob es tatsächlich einfach nur gelingt, den Orchestermeister immer mehr durchdrehen zu lassen, oder ob nicht doch etwas an den irren Gedanken dran ist, die ihm eingeflüstert werden – Wright selbst ist mehr und mehr von letzterem überzeugt, je näher sie der Sonne kommen, wo es schließlich zum gebührenden Showdown kommt, der auch Dent Ios die Gelegenheit gibt über sich hinauszuwachsen.


„Star at the centre of the Solar System“ (Wikimedia Commons)

Meisterlich erzählt sind dabei nicht nur die zwischenmenschlichen Komplikationen und futuristischen Konzerte, sondern auch kleinere Details wie etwa die Beschreibungen der in Blautöne und Polygone zerfallenden Handlungsorte, wenn aus Wrights Perspektive eines erblindeten, aber durch ein technisches Implantat wieder sehenden Menschen erzählt wird (für den Whiteness vielleicht nur noch eine Erinnerung ist?). Unglaublich plastisch ist auch die Ausgestaltung dieser Zukunftsvision – sowohl was die fiktive Geschichte der Physik und auch der Musik im Verlauf der Jahrtausende angeht, als auch den imaginären Verlauf der Besiedelung des Sonnensystems. Ich behaupte zwar immer, dass mich Kanondiskussionen und Konsistenz über Bücher oder Serien hinweg nicht besonders interessiert, aber hier stellte ich dann doch fest, was für ein Genuss es sein kann, wenn sich die Ereignisse, Orte und Personen völlig mühe- und nahtlos in dasselbe Universum einfügen, das Robinson später in der Marstrilogie noch (sehr viel) detaillierter schildert.

Die zentrale Idee der Vereinigung von Wissenschaft, Kunst und Spiel zu einer höheren Kulturform erinnert in mancherlei Hinsicht an Hesses Glasperlenspiel, unter anderem dadurch, dass es in beiden Fällen eine Person an der Spitze der jeweiligen „Schule“ gibt (bei Hesse: den Magister Ludi), die die Kunstform meisterlich beherrscht und entweder bewundert oder gehasst wird. Und obwohl Wrights Orchester ein paar futuristische Instrumente und eine Loopmaschine enthält, ist es auch hier im Kern klassische Musik, gespielt mit Hilfe eines klassischen Orchesters, die es erstens schafft, Naturwissenschaften zu „übersetzen“ und zweitens die Menschen im Innersten zu berühren. Zusammengenommen mit dem ebenfalls sehr klassischen Protagonisten Wright, der zwar von Pluto stammt, aber wahrscheinlich in einem heutigen britischen College kaum auffallen würde, wirkt das etwas angestaubter als nötig wäre. Ich hätte gerne auch Robinsons Ideen dazu gelesen, wie etwa die Weiterentwicklung elektronischer Musik in 1000 Jahren aussehen könnte.

Trotzdem ist The Memory of Whiteness eine überwältigende Mischung aus saftig überbordernder Space-Opera und harter Sci-Fi, die ich sehr weiterempfehlen würde. Mit jedem gelesenen Buch finde ich die Bandbreite von Robinson beeindruckender: nach (oder vielmehr vor) penibel detaillierten Chroniken (Marstrilogie), wunderschönen Traumwelten (A Short, Sharp Shock) und sanft-berührenden Erzählungen (Aurora) zeigt er hier, dass er auch das Genre des Bizarro-Musik-Krimis beherrscht.

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Beitragsbild: „Pile of Trumpets“ von Sean, CC BY-ND 2.0, via flickr
Sonnenbild: The Sun by the Atmospheric Imaging Assembly of NASA’s Solar Dynamics Observatory, public domain, via Wikimedia Commons

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