Cory Doctorows Aussteiger, die Walkaways, haben ziemlich interessante Ideen und ein gutes Herz. So spannend die abstrakten Sci-Fi-Aspekte sind, so blass bleiben allerdings die Charaktere und ihre Abenteuer.

Die Prämisse ist vielversprechend: In einer nahen Zukunft ist die Ressourcenknappheit durch modernste Recycling- und 3D-Drucker-Technologie so gut wie besiegt. Dennoch sind kapitalistische Strukturen nicht nur übrig geblieben, sondern haben sich noch mehr ins Extreme gesteigert. Eine Handvoll megareicher „Zottas“ versucht durch künstliche Waren-Verknappung und Überwachung an der Macht zu bleiben. Eine neue weltweite Bewegung der „Walkaways“ beschließt sich dem entgegenzustellen, indem sie einfach buchstäblich weggehen und in unbewohnten Gebieten oder verlassenen Städten ihr eigenes Ding machen.

Die Gemeinschaften, die die Walkaways bilden, sind dabei immer digital vernetzt und ähneln einer großen Open-Source-Community. Pläne für Gebäude, Möbel, Klamotten werden ausgetauscht, überarbeitet, optimiert und jedem zugänglich gemacht. Persönlicher Besitz spielt keine große Rolle mehr, das meiste wird geteilt. Die meisten Walkaways leben in größeren Kommunen zusammen. Das alltägliche Zusammenleben wird dabei in vielen liebevollen Details beschrieben: etwa das dauernde Debuggen der Haushaltsgegenstände oder die ständig aufkochenden Diskussionen darüber, ob bei Gemeinschaftsarbeiten völlige Anonymität oder eher ein gamifizierender Ansatz mit High-Score-Listen besser ist. Etwas irritierend ist dabei die völlige Abwesenheit von historischen Bezügen auf Vorreiter des Austeigerlebens – Doctorows entscheidet sich aus irgendeinem Grund dafür es so erscheinen zu lassen, als wären die Walkaways die allerersten, die auf solche Ideen gekommen sind.

Anderen Reviews zufolge hat Doctorow ähnliche Gesellschaftsentwürfe auch in seinen vorigen Romanen beschrieben. Eine Besonderheit in Walkaway ist, dass auch die Idee, seine Persönlichkeit und seine Erinnerungen „hochzuladen“ und somit unsterblich zu werden, eine wichtige Rolle spielt. Die Probleme, die sich dabei ergeben, sind sehr spannend: wie stabilisiert man die KI-Personen nach dem „Upload“ soweit, dass sie nicht durchdrehen, wenn sie verstehen, dass sie nur noch in einem Computer existieren? Wie geht man damit um, dass auf der ganzen Welt viele Instanzen von einem aktiviert sein können? Wie beeinflusst es die Einstellung zu Leben und Tod, wenn man jederzeit ein Backup von sich machen kann? Und wie kann man dieses Backup aufbewahren und verhindern, dass es in falsche Hände gerät? Was diese Fragen an der Schnittstelle zwischen Politik, Informatik und Soziologie angeht, ist Doctorow ziemlich stark und glänzt mit cleveren und unterhaltsamen Szenarien.

Trotzdem fällt die Gesellschaftskritik etwas schwächer aus, als sie hier sein könnte, weil „der Kapitalismus“ in sehr personifizierter Weise auftritt. Es sind ein paar böse Einzelpersonen (darunter auch der Vater einer Hauptfigur), die das System im Alleingang zu stützen und am Laufen zu halten scheinen – wodurch dieses auch auf dieser individuellen Ebene angreifbar und überwindbar wird.

Eine aus meiner Sicht auch eher unnötige Abschwächung der Walkaway-Ideale findet auch dadurch statt, dass die Hauptfiguren fast alle gedanklich noch in den Denkmustern des „Defaults“ (die Welt der Nicht-Walkaways) verhaftet sind. Dafür, dass sich die Geschehnisse in den 2070er Jahren abspielen sollen, haben viele von ihnen noch erstaunlich gegenwartsnahe Vorurteile, was etwa bestimmte Arten von Sexualität oder Genderidentität angeht. Unangenehm dabei ist, dass die Erzählweise nahelegt, das alles seien unvermeidbare, universelle und damit völlig entschuldbare Konsequenzen des Aufwachsens im „Default“; das Ganze liest sich wie der Versuch, Leute mit heute weitverbreiteten Vorurteilen abzuholen und ihnen ausführlich vorzuführen, wie man sich ganz langsam von ihnen lösen kann. Inspirierender und interessanter finde ich da andere Utopien, die einem einfach Menschen zeigen, die in dieser Hinsicht (plausiblerweise, nach Jahrzehnten) schon weiter sind.

Das größte Problem hatte ich allerdings mit den Charakteren und ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Als das Buch ausgerechnet mit einem Default-Nerd (aus der Zeppelin-Branche, die eine Renaissance erlebt hat) beginnt, der sich in ein toughes, cooles, aber auch verletzliches Walkway-Mädchen verliebt, war ich schon etwas enttäuscht – bei all den Möglichkeiten, die das Szenario bietet, wird ausgerechnet etwas erzählt, das man schon oft genug gelesen oder gesehen hat (kürzlich etwa mal wieder in Ready Player One). Im Verlauf der Buches werden die Konstellationen zwar etwas abwechlungsreicher, wobei Doctorow sich aber entscheidet, nur bei Junge-Mädchen und Mädchen-Mädchen-Paaren dem „show, don’t tell“-Prinzip zu folgen. Zudem haben alle eine sehr ähnliche Art zu denken, zu fühlen und zu sprechen, wobei es mir auch störend und faul vorkommt, junge Leute in 50 Jahren immer noch Ausdrücke wie „tldr“, „because reasons“ etc. verwenden zu lassen.

Ein Goodreads-Reviewer hatte dazu eine Hypothese, die ich auf Anhieb sehr einleuchtend fand: vielleicht wird hier eine Welt beschrieben, in der einfach alle ein bisschen wie Cory Doctorow sind. Es ist sicher nicht die schlechteste aller möglichen Welten, sie hat das Herz am rechten Fleck, aber es ist auch nicht gerade die interessanteste.

 

Bildquelle: 3D-druckbarer Walkaway von sshah217 (Thingiverse, CC BY 3.0)

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