Liu Cixins Die drei Sonnen ist ein Roman, dessen Science Fiction etwas weniger hart und dafür viel witziger ist, als ich dachte. Achtung, Spoiler!
Liu verwebt in Die drei Sonnen mehrere Erzählstränge:
- Eine Astrophysikerin, die von traumatischen Erfahrungen während der Kulturrevolution geprägt ist, wertet in den 70er Jahren auf einer militärischen Forschungsstation Signale aus dem Weltall aus. Als tatsächlich ein Außerirdischer Kontakt aufnimmt, trifft sie eine sehr weitreichende Entscheidung.
- In der nahen Zukunft stoßen einem Materialwissenschaftler unerklärliche Dinge zu. Er gerät in geheime polizeiliche Ermittlungen zu mysteriösen Todesfällen von Physikern hinein, die ähnliche merkwürdige Erfahrungen gemacht haben.
- Ein Virtual-Reality-Massive-Multiplayer-Spiel namens Three Body wird immer beliebter. Darin erlebt man den ständigen Auf- und Niedergang einer Kultur unter extremen klimatischen Bedingungen mit und versucht, sie zu stabilisieren.
Alle diese Vorgänge haben im Kern mit der außerirdischen Zivilisation der „Trisolarier“ zu tun: Sie sind es, die die Astrophysikerin kontaktiert haben; sie sind auch für die physikalisch eigentlich unmöglichen Phänomene verantwortlich, die überall auftreten; und ihre Kultur ist es, die in dem Spiel simuliert wird. Jeder Handlungsstrang ist dabei hervorragend geschrieben – ich war mir erst sicher, einen reinen Kulturrevolutionsroman zu lesen, weil die ersten Passagen aus dieser Zeit so überzeugend erzählt waren, um dann im nächsten Kapitel von detailreichen VR-Experiences überrumpelt zu werden.
Diese sind wirklich fantastisch fremdartig. Man erlebt mit – zunächst ohne jegliche Erklärung –, wie jemand durch eine Wüstenlandschaft marschiert, wobei die Temperatur plötzlich und völlig unregelmäßig zwischen eisigen und kochend heißen Extremen wechselt. Die Bewohner dieser Welt scheinen die Fähigkeit zu haben, sich zu „dehydrieren“, also zu entwässern, und sich als trockenen Lappen transportieren oder einlagern zu lassen. Es stellt sich heraus, dass die gesamte Population dieser Welt hin und wieder auf Anweisung des Herrschers dehydriert wird, um längere unerträglich kalte oder heiße Phasen zu überdauern. Jeder Gelehrte – bzw. jeder Teilnehmer an der VR-Simulation – versucht, einen Weg zu finden, diese Phasen vorherzusagen. Das ist aber ausgesprochen schwierig, weil der Planet, auf dem das ganze spielt, Teil des titelgebenden Systems aus drei Körpern ist, deren wechselseitige Anziehungen sehr komplexe Auswirkungen haben.
Die geheimnisvollen Dinge, die währenddessen aufgrund von Trisolaris-Machenschaften in der Realität vor sich gehen, betreffen vor allem scheinbare Änderungen in den Naturgesetzen, die sich unter anderem in Abweichungen in physikalischen Experimenten zeigen, die subtil, aber unerklärlich sind und einen Wissenschaftler nach dem anderen um den Verstand bringen. Die sanfte, aber zutiefst verstörende Verschiebung der bekannten Wirklichkeit erinnert an manche Romane von Murakami (etwa 1Q84, wo auch ein zusätzlicher Himmelskörper das erste Anzeichen dafür ist, dass etwas ganz und gar nicht stimmt), aber die sprachlichen Bilder, die Liu dafür findet, sind etwas saftiger und bombastischer:
„Als er unter diesem flimmernden Himmelsgewölbe stand, hatte er auf einmal das Gefühl, das Weltall würde sich wie ein verkrampftes Herz zusammenziehen, bis es nur noch ihn allein umschloss. Als wäre dieses pulsierende rote Licht halb durchsichtiges Blut, das durch das kosmische Herz strömte. Er selbst schwebte im Blut und sah, dass das rote Licht nicht regelmäßig flackerte. Er spürte eine riesenhafte, perverse Präsenz, die ein menschlicher Geist niemals begreifen konnte.“
Schließlich mündet alle Erzählstränge in einen großen Action-Showdown, bei dem der Materialwissenschaftler glänzen und seine superpräzisen und unsichtbaren Nanoschnüre zum Einsatz bringen kann, und bei der die ganze Verschwörungsmaschinerie rund um Trisolaris auffliegt.
In Rezensionen über „Die drei Sonnen“ findet man einige Adjektive immer wieder: „intelligent“, „lehrreich“, „hochspannend“ (Deutschlandfunk), „aufregend“, „meisterlich“ (Spiegel), letzterer spricht auch von „vielleicht etwas althergebracht[er] […] hard science fiction“. Die Wikipedia liefert gewohnt pingelig Kritikpunkte an falsch dargestellten wissenschaftlichen Grundlagen, zum Beispiel, dass „Elementarteilchen nicht in eine beliebige Untermenge von 11 Dimensionen eingezwängt und dann beliebig manipuliert werden“ können (was im Buch die Erklärung dafür liefert, wie die Trisolarier die Naturgesetz-Glitches auf der Erde verursachen).
Was erstaunlich selten angesprochen wird, ist der (für mich wirklich sehr direkt ins Auge springende) Humor. Beispielsweise sind viele Beschreibungen der VR-Welt enorm witzig, angefangen beim Konzept der De- und Rehydrierung, bis hin zu Passagen wie der folgenden:
„König Wen erhob sich langsam und ging zum riesigen Kessel hinüber, unter dem erneut ein großes Feuer brannte. Nachdem er sich auf den Rand hinaufgezogen hatte, zögerte er ein paar Sekunden, bevor er hineinsprang. Vielleicht sah er Fu Xis lachendes, weich gekochtes Gesicht in der Suppe schwimmen. „Kocht ihn auf kleiner Flamme!“, befahl König Zhou Xin mit matter Stimme. Dann drehte er sich zu den anderen um. „Alle, die aufhören wollen, klicken bitte ‚Exit‘. Das Spiel ist an einem Punkt angelangt, wo es keinen Spaß mehr macht.“
Das erinnert an Sci-Fi-Albernheiten (im besten Sinne), wie sie etwa in Lems Sterntagebüchern oder bei den Strugatzkis zu finden sind, oder fast schon an comichafte Abenteuer, wie sie etwa Donald Duck zustoßen könnten (auch das im besten Sinne). Gerade auch die Beschreibung der oben nüchtern als Einzwängung von Elementarteilchen in eine Untermenge von Dimensionen bezeichneten Technologie der Trisolarier liest sich eben nicht wie hard sci fi, sondern ist eher formelhaft erzählt wie ein Märchen oder eine Fabel: natürlich klappt die geplante Faltung des Elementarteilchens nicht ganz wie geplant, sondern es ist zuerst eine Dimension zu viel und dann – natürlich – eine zu wenig, mit jeweils aberwitzigen Folgen, mit Betonung auf witzig.
Das alles soll nicht heißen, dass der Roman nicht auch intelligent und spannend ist – aber im Gedächtnis bleiben werden mir (was ich noch höher schätze) vor allem wunderbare Bilder wie ausgetrockenete Trisolarier, weich gekochte Gesichter und sauber in Scheiben geschnittene Schiffe. Meine Empfehlung: lesen, und etwas lockerer machen als die Verfasser der Wikipedia-Kritiksektion.
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