Seit 200 Jahren herrscht Funkstille zwischen dem Anarcho-Planeten Anarres und der Schwesterwelt Urras.
Aber dann wagt es der abenteuerlustige Shevek, auf Urras zu landen und die Kapitalisten aufzumischen.
Wie wird es weitergehen?!
Erfahrt es in diesem Review von Le Guins Klassiker, an dem sich die Geister scheiden:
„It’s just so tedious. No action it might as well be a 300+ paper on philosophy. 1 star.“
„The book is good. The story line flips from future to past. The book I ordered came in perfect condition. 5 stars.“
(Das Review ist etwas ernst geraten, ich hoffe das mit diesem Teaser auszubügeln).
The Dispossessed ist Teil des sogenannten „Hainish-Zyklus“, einer Reihe von Romanen und Kurzgeschichten, die im selben Universum spielen. Die Hainish sind eine alte Spezies, die Planeten in mehreren Sonnensystemen besiedelt haben. Dazu gehört die Erde, und, 11 Lichtjahre entfernt, die einander umkreisenden Doppelplaneten Urras und Anarres im Tau-Ceti-System.
Im Mittelpunkt von The Dispossessed steht der Physiker Shevek. Er ist der erste Anarresti, der nach zwei Jahrhunderten der Trennung nach Urras reist. Damals siedelte eine Gruppe von Revolutionären vom florierenden Urras auf den kargen und staubigen Felsbrocken Anarres um. Dort versuchen sie seitdem, nach den Ideen der anarchistischen Philosophin Odo zu leben. Shevek durchbricht die Funkstille zwischen den beiden Welten, zunächst um des wissenschaftlichen Austauschs willen, später mit dem Wunsch, die Menschen von beiden Planeten wieder näher zusammenzubringen und erstarrte (fast schon zu Gesetzen gewordene) Gewohnheiten auf Anarres zu durchbrechen.
Jedes zweite Kapitel erzählt von Sheveks Besuch auf Urras, die anderen Kapitel erzählen von seiner Vergangenheit mit seiner Partnerin Takver und dem Leben auf Anarres. Auf den ersten Blick ist Shevek positiv überrascht von Urras: die Urrasti bringen ihm Freundlichkeit und ehrliches Interesse an seiner Forschung und seiner Heimat entgegen, die Studenten sind motiviert und wissbegierig, und es sind keine ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiter und toten Kinder in Sicht, wie er es aufgrund von anarrestischen Überlieferungen erwartet hätte. Aber je näher er die Menschen kennenlernt und je weiter er über die Grenzen des Regierungsviertels und Universitätscampus hinausschaut, desto unerträglicher wird ihm Urras.
Le Guin zeichnet, immer anhand persönlicher Erlebnisse ihrer Charaktere, ein umfassendes Bild der Lebensweise auf beiden Planeten. Ein Unterschied, der Shevek besonders zu schaffen macht, betrifft die Universität. Als wissenschaftlicher Ehrengast auf Urras darf er Kurse zu seinem Spezialgebiet (eine neue physikalische Theorie der Zeit) unterrichten. Als er feststellt, dass es im Gegensatz zu den Lerngemeinschaften auf Anarres nicht nur darum geht, zusammen zu lernen und sich auszutauschen, sondern dass auch Noten vergeben und Leute ausgesiebt werden sollen, schlägt er einen Deal vor, um die Vorgabe zu umgehen. Das stößt auf Widerstand – nicht nur von der Administration, sondern auch von den Studenten selbst, die auf Urras nicht anders können, als Bildung als Karriereschritt und bessere Noten als Wettbewerbsvorteil gegenüber den Kommilitonen zu sehen. The Dispossessed ist voller solcher Passagen, in denen jede Zeile wie ein gut gezielter Schlag in die Magengegend ist, wenn man in den Unsitten auf Urras seine eigenen Denkweisen wiedererkennt und die, von denen man ständig umgeben ist; die urrastischen Begriffe und Argumente der Konkurrenz- und Beschäftigungsfähigkeit könnten direkt aus unserer aktuellen Bologna-Bildungs-Vereinbarung entnommen sein. Geradezu physisch schlecht wird Shevek auch beim Betrachten einer Kunstgalerie und den Preisschildern an den Werken, zu denen er nur eine Frage hat – „Why was this made?“.
Wie die Anarresti über Familie und Elternschaft denken erinnert an Ideen in Joanna Russ‘ nur ein Jahr später (1975) erschienenem The Female Man. Verantwortung für Kinder wird als gemeinschaftliche Aufgabe aufgefasst, was biologische Eltern- und vor allem Mutterschaft zu einem weniger lebensbestimmenden Schicksal macht. Darüber hinaus sind die feministischen Motive bei Le Guin etwas weniger bitter und weniger scharf gestaltet als bei Russ, aber hinter vielen subtilen Details stecken auch hier kluge Beobachtungen. So wirkt etwa die Mode der weiblichen Urrasti, den gesamten Körper inklusive des Schädels völlig zu enthaaren und bei der Abendgarderobe die Brüste nackt zu lassen, auf den ersten Blick einfach wie ein Stilmittel, um die außerirdische Kultur fremdartig und exotisch wirken zu lassen*; auf den zweiten Blick kommt man aber kaum umhin festzustellen, was für eine minimale Überspitzung unserer Gewohnheiten das eigentlich darstellt. Die Sexualisierung der Frauen und gleichzeitige Tabuisierung offener Gespräche über Sex auf Urras ist dabei auch etwas, womit Shevek schwer zurecht kommt. Auf Anarres ist Sexualität selbstverständlicher Teil der zwischenmenschlichen Interaktion, undeformiert von Machtgefällen – ähnlich wie in anderen Sci-Fi-Gesellschaften, die sich auf dem Weg der Abschaffung sexistischer Strukturen befinden, wie in Robinsons Mars-Trilogie oder Daths Pulsarnacht.
All diese Unterschiede in den Denk- und Lebensweise der Urrasti und Anarresti schlagen sich folgerichtig auch in der Sprache nieder. Beispielsweise gibt es im Pravischen (der Sprache der Anarresti) zwar Wörter für den biologischen Vater und die biologische Mutter; von Kindern wird aber ein allgemeinerer Begriff häufiger verwendet, mit dem man alle wichtigen erwachsenen Bezugspersonen ansprechen kann. Das Verb, das für sexuelle Handlungen benutzt wird, kann nur mit einem Pluralsubjekt verwendet werden, wodurch grammatische und gedankliche Asymmetrie zwischen den Beteiligten vermieden wird (für die englischen Leser wiedergegeben als „They copulated“). Die gravierendsten sprachlichen Unterschiede zeigen sich dann, wenn es um Arbeit und Besitz geht. Possessivpronomen existieren im Pravischen zwar, sind aber ziemlich ungebräuchlich. Statt einem Satz wie „Du kannst meins haben“ werden lieber Konstruktionen wie „Wir können das teilen, das ich benutze“ verwendet. Für die Konzepte, die wir und die Urrasti als „spielen“ und „arbeiten“ bezeichnen würden, verwenden die Anarresti, die sich ihre Tätigkeiten ohne materiellen Existenzdruck wählen, dasselbe Wort; eine Ausnahme bildet wirklich unangenehme Plackerei („kleggich“ – lädt sehr zum Übernehmen in den eigenen Wortschatz ein), die hin und wieder jedem zugeteilt wird. „Kaufen“ ist ein Wort, das Kinder nur entfernt aus Geschichten über Urras kennen und das sie höchstens manchmal verwenden um ihre Freunde zu schockieren, ohne es richtig aussprechen zu können („Bay me, bay me, for just a little money!“). Die häufigste Zurechtweisung zwischen Anarresti ist „Stop egoizing!“, die schlimmste Beleidigung „You profiteer!“**.
Dabei ist der entscheidende Kontrast zwischen Urras und Anarres nicht der zwischen Kapitalismus und Sozialismus – auf Urras gibt es sowohl kapitalistisch als auch sozialistisch geprägte Ländern; was beide gemeinsam haben und was sie von der anarrestischen Gesellschaft trennt, ist das Machtgefälle zwischen Regierung und Regierten – also der Kontrast zwischen Anarchismus und, wie die Anarresti sagen, Archismus.
So wie Urras keine vollendete Hölle ist, ist Anarres kein Paradies. Es herrscht fast beständig Ressourcenknappheit, Essen und Materialien müssen rationiert werden. Neid, Streit und Gewalt gibt es auch unter Anarresti. Eine der größten Schwierigkeiten, mit der sie zu kämpfen haben, ist die Spannung zwischen ihrem Anspruch, frei von Regierungen und Gesetzen zu bleiben, und dennoch das alltägliche Leben, Arbeitskraft- und Warenverteilung zu organisieren. Die Basis der anarrestischen Wirtschaft bilden lokale Kooperativen (eine weitere Parallele zu Robinsons Mars-Utopie); dennoch kommt es auf höheren Ebenen zu Machtanballungen an bestimmten Knotenpunkten. Und obwohl alle im Prinzip frei sind zu tun, was sie wollen ohne jemals ihr Recht auf Mahlzeiten und eine Gemeinschaftsunterkunft verlieren zu können, werden allzu egoistische Entscheidungen dennoch durch Feindseligkeit und Ausgrenzung sanktioniert. Gleichzeitig freier Mensch und Teil der Gesellschaft zu bleiben ist ein beständiger Kampf, der lange Diskussionen erfordert und viel Kraft kostet. Dennoch eint die meisten Anarresti die Überzeugung, das man alles ertragen kann in einer Gesellschaft, die in ihrem Kern auf Solidarität beruht. Trotz des Untertitels An ambiguous utopia lässt The Dispossessed keinen Zweifel daran, welcher der beiden Planeten ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
Neben den – bitter nötigen – Schlägen in die Magengrube bietet das Buch aber auch ziemlich einzigartig schöne Geschichten über Freundschaft und Liebe (nur ausnahmsweise zwischen gleichen und freien Menschen).
*Ich muss sagen, ich habe mich auch an die Heimatwelt der Oberkapitalisten in Star Trek erinnert gefühlt – Ferenginar. Dort scheint mir die Nacktheit und Kahlheit der weiblichen Ferengi aber auf nicht viel mehr als einen „Ih, perverso!“-Effekt abzuzielen.
**Letzteres wird auch gern von Lesern verwendet, wie folgende Rezension zeigt: „This review was given one star only because I could not give less, and this review is NOT about the book, but is about the profiteering practised by its publisher. Hell will freeze over […] before I would pay three times the price of a paperback for an ebook!“