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Neben The Dispossessed ist The Left Hand of Darkness wahrscheinlich Le Guins bekanntestes Science-Fiction-Werk. Die beiden Erzählungen sind in demselben Universum angesiedelt, in dem die humanoiden Bewohner verschiedener Sonnensysteme (ähnlich wie etwa in Star Trek) alle von gemeinsamen Vorfahren – den Hainish – abstammen und daher viele Merkmale teilen. Trotzdem haben sie sich in ziemlich verschiedene Richtungen entwickelt. In The Left Hand of Darkness lernen wir die Gethenianer kennen, deren Heimatplanet wegen seiner extremen Temperaturen von Außerstehenden auch „Winter“ genannt wird.

Wir folgen der Geschichte eines solchen Außenstehenden, nämlich Genly Ai, der Winter mit dem Ziel auskundschaftet, es zum Beitritt zu einem interstellaren Planetenverbund einzuladen. Es fällt Ai dabei relativ leicht, sich als einer der Gethenianer auszugeben, auch wenn er für ihre Verhältnisse überdurchschnittlich groß*  und überdurchschnittlich dunkelhäutig** ist. Zudem unterscheidet er sich auch darin, dass er permanent männliche Geschlechtsmerkmale aufweist. Die Gethenianer  dagegen sind die meiste Zeit über geschlechtslos. Nur einmal im Monat treten sie für ein paar Tage in einen Zustand ein, in dem sie eins von zwei Geschlechtern annehmen und paarungsbereit sind. Eine Sci-Fi-Idee, deren Konsequenzen von Le Guin brillant (also in dieser Hinsicht nicht wie in Star Trek) ausgelotet werden. Besonders entscheidend ist, dass kein Gethenianer ausschließen kann, im Falle einer Elternschaft das Elternteil zu werden, das das Kind in sich austrägt und stillt. Das verhindert einleuchtender- und irrerweise die unumstößliche Zweispaltung der Gesellschaft, wie sie Genly Ai von seiner Heimat, der Erde, kennt: auf Winter gibt es keine Klasse von Menschen, die allein aufgrund ihrer Biologie als prädestiniert für Haus- und Familientätigkeiten gelten kann.

The Left Hand of Darkness zeichnet aber keine Welt, die frei von Sexismus ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Werken, in denen sexistische Verhältnisse aus der Gegenwart in die Zukunft projiziert werden, ist das hier aber kein Ausdruck davon, dass die Strukturen für selbstverständlich gehalten und unreflektiert weitergetragen werden (wie es mir zum Beispiel bei Asimov oder Dick vorkommt), sondern aussagekräftiger Pessimismus.***

So hat Genly Ai lange Probleme, mit der Andersartigkeit der Gethenianer zurechtzukommen. Dauernd ertappt er sich dabei, seine dortigen Bekannten mal eher als weiblich, mal eher als männlich wahrzunehmen (je nachdem, wie sie sich gerade verhalten) – und ich kann nicht behaupten, dass es mir als irdischer Leser anders gehen würde. Langsam, ganz langsam, ändert sich das allerdings. Am Ende der Geschichte ist Ai so weit, Estraven – eine gethenianische Person, die er zunächst für verräterisch hielt und mit der ihn mit der Zeit eine immer tiefere Freundschaft verbindet – ohne diese Zuschreibungen zu sehen. In einigen Kommentaren zu The Left Hand of Darkness haben Leser das, was Genly Ai und Estraven durchmachen, als die schönste Liebesgeschichte bezeichnet, die sie kennen, und ich bin geneigt zuzustimmen.

Als wäre das nicht genug, ist die Welt, in der der Roman angesiedelt ist, außergewöhnlich detailliert und interessant ausgestaltet. Wie schon in The Dispossessed bilden die Bewohner des im Mittelpunkt stehenden Planeten nicht eine einzige homogene Monokultur, sondern wir bekommen verschiedene Länder und Regionen zu sehen, die sich in ihren Sitten, ihrer Sprache, ihrem politischen und administrativen System unterscheiden – keine Selbstverständlichkeit auf Sci-Fi-Planeten.

Allen Winter-Kulturen, die wir kennenlernen, ist gemeinsam, dass sie ein komplexes soziales Prestige- oder Respekt-System haben, das Ai unübersetzt als „Shifgrethor“ stehen lässt. Je länger man darüber liest, desto mehr bekommt man (wie Ai) ein ungefähres Gefühl dafür, wie die Gethenianer aus Shifgrethor-Gründen direkte Fragen vermeiden und Ratschläge als etwas anderes tarnen, ohne dass man es ganz durchdringen kann. Ähnlich tief ausgearbeitet sind mehrere ihrer Religionen, unter anderem die Handdara. Ihre Anhänger streben nach einem Zustand des Nicht-Wissens – obwohl sie die Kunst der Wahrsagerei perfektioniert haben und in ihren Ritualen jede Frage nach der Zukunft wahrheitsgemäß beantworten können. Wie schwer es ist, die richtige Frage zu formulieren, und wie nutzlos die Antwort auf die falsche Frage sein kann, ist ein weiteres zentrales Thema des Buches.

Was die Sprachen auf Winter angeht, spiegeln viele ihrer Besonderheiten die andere Lebenswelt wider. Zu den weniger einfallsreichen Eigenschaften gehört dabei, dass die Gethenianer unzählige verschiedene Wortstämme für Schnee haben sollen – das greift ein weitverbreitetes linguistisches Missverständnis über ein paar unserer irdischen Sprachen auf. Davon abgesehen fällt aber natürlich vor allem auf, dass geschlechtsbezogene Pronomen fehlen – es gibt nur eins für Menschen im Allgemeinen.**** Ein schönes Detail ist auch der häufige Ausspruch „Nusuth“, der so viel wie „Egal“ bedeutet, aber durch den Bezug zur Handdara andere Bedeutungsnuancen bekommt als bei uns.

All das fügt sich zu einer sehr stimmigen Welt zusammen, die mich schnell in den Bann gezogen hat. Außer einem klugen Gesellschaftskommentar und einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte ist The Left Hand of Darkness dabei noch etwas: ein einfach fantastisch erzähltes Abenteuer in atemberaubender Gletscherlandschaftskulisse.

Ich empfehle es sehr.

 

*Eine interessante Erzählperspektive: ich hatte für vielleicht ungefähr die Hälfte des Buches die genly-zentrische Vorstellung, dass alle Gethenianer sehr klein sind; danach switchte das zu der Vorstellung, dass die Gethenianer normal sind und Genly absurd groß ist.

**Was hier ebenso nebenbei erwähnt wird wie in Le Guins Erdsee-Chroniken – die Autorin dazu in einem Interview: „My evil activist plot: Let your hero have a dark skin, but don’t say anything about it, until the reader is used to identifying with that person, and then suddenly realizes, Hey, I’m not white! … But what do you know? – I’m still human!“

***Le Guin auf die Frage „Do you consider Ai a sexist?“:
„Oh, yes. Not a mean one. Not a misogynist. He just has accepted and identified with his society’s definition of women as weaker than men, more devious, less courageous, etc.—physically and intellectually inferior. This gender prejudice has existed for so many thousands of years in so many different societies that I had no hesitation in carrying it on into the future.“

****Ai tut sich schwer, das Pronomen für uns zu übersetzen und wählt das generische he; das wirkt heute ungewöhnlich, aber das Singular-they ist erst nach dem Erscheinen des Buches seit den 70er Jahren zum inzwischen am häufigsten verwendeten generischen Pronomen im Englischen geworden.

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