VOX ist kein gutes Buch; aber es hat mich dazu gebracht, einen Klassiker zu lesen, mit dem es in Rezensionen immer wieder verglichen wird. Daher hier eine Doppelrezension zu VOX und seiner (nachdem ich beides direkt hintereinander gelesen habe, wirklich nicht zu übersehenden) Vorlage The Handmaid’s Tale.
In Atwoods Klassiker The Handmaid’s Tale erzählt uns eine namenlose Frau von ihrem Leben in einer nahen Zukunft (von damals aus). Eine religiöse Gruppierung ist in den USA an die Macht gekommen, die sehr genaue Vorstellungen davon hat, welche Rolle Frauen in der Gesellschaft einnehmen sollen. Oder, genauer gesagt, welche Rollen: wer das zweifelhafte Glück hat, fortpflanzungsfähig zu sein (was in Atwoods postapokalyptischer, gift- und strahlungsverseuchter Welt inzwischen die Ausnahme ist), kommt in Frage als sogenannte Handmaid; alle anderen – zumindest diejenigen, die nicht in Arbeitslager geschickt wurden – nehmen entweder eine Rolle als Ehefrau (für Gesellschaft oder vielleicht Liebe), Haushaltshilfe oder (inoffiziell) Prostituierte ein. Für jede Rolle gibt es ein striktes Regelwerk und eine klare äußere Markierung: alle zum Gebären vorgesehenen Handmaids tragen beispielsweise Rot und haben einen von „ihrem“ Mann abgeleiteten Namen.
Auch in VOX erzählt uns eine Frau von einer (von uns aus gesehen) nahen Zukunft, in der eine konservative religiöse Gruppierung in den USA rapide an politischer Macht gewonnen hat. Eins ihrer Ziele besteht darin, Frauen zum Schweigen zu bringen. Das setzen sie mit Hilfe technischer Geräte um, die die tägliche Anzahl gesprochener Wörter auf 100 beschränken und ansonsten (per zwangsweise angelegtem Armband) körperliche Schmerzen zufügen.
Die inhaltlichen Parallelen sind unübersehbar, aber sie sind unterschiedlich wirksam umgesetzt. Ein gutes Maß dafür kann sein, sich zu fragen, wie viele LeserInnen das Buch unangenehm berühren dürfte. Bei VOX ist das eine ziemlich klar umrissene Gruppe: die, die tatsächlich dafür sind, dass die Meinungsäußerung von Frauen gewaltsam beschränkt werden sollte (was man vielleicht auch nicht unterschätzen sollte; die Kommentare unter Onlinerezensionen zu VOX legen nahe, dass diese Gruppe auch nicht vernachlässigbar klein ist). Allen anderen dürfte es leicht fallen, sich zu distanzieren: nein, natürlich sollte niemand Elektroschocks bekommen, das hat ja niemand behauptet. So, wie die Geschichte aufgebaut ist, ist der Inhalt des Verbots eigentlich fast austauschbar: es ist leicht, körperliche Bestrafung abzulehnen, egal ob es darum geht, maximal 100 oder mindestens 100 Wörter zu sprechen.
Es ist schwieriger, sich der Unbehaglichkeit von The Handmaid’s Tale ganz zu entziehen. Die Kleidungs- und Verhaltensvorschriften mögen sich im Detail an bestimmten religiösen Normen orientieren, die man vielleicht im einzelnen ablehnt; aber das Auseinandernehmen ausdefinierter sozialen Funktionen, die vor allem Frauen einnehmen, greift ziemlich tief sitzende Vorstellungen an. Atwood macht sie sichtbar, indem sie sie ins Extreme führt und auf verschiedene Personen aufspaltet.
Die meisten dieser Funktionen existieren natürlich auch bei uns teilweise in Isolation, als (frauentypischer) Beruf. Besonders sind vor allem Atwoods Handmaids. Ihre Funktion umfasst nicht die gesamte Mutterrolle, sondern nur das Austragen und Gebären (danach bleibt das Kind in der „Familie“, während die Handmaid zum nächsten Standort mit Kinderwunsch versetzt wird). Im Unterschied zu einer Leihmutter leben sie bis zur Geburt des Kindes mit im Haushalt, als zugleich beneidete und verhasste stille Mitbewohnerin. Atwoods Kritik erschöpft sich nicht darin, zu beklagen, dass es unfair ist, dass das Gebären den Frauen zufällt. Es geht vielmehr darum, zu was für Denkweisen über und Erwartungen an Frauen diese Tatsache führt (auch bei ihnen selbst). Die Indoktrination in der Handmaidschule hat vor allem damit zu tun, sich selbst zurückzunehmen und sich völlig für den vorbestimmten Zweck zu öffnen. Wenn den Handmaids Respekt entgegegen gebracht wird, richtet sich dieser nicht wirklich an sie selbst, sondern an den Körper, das Gefäß, die sie (für andere) zur Verfügung stellen.
Die Absurdität und Widersprüchlichkeit der verschiedenen Rollen wird drastisch greifbar, wenn etwa Handmaid und Ehefrau beim Befruchtungsversuch gleichzeitig anwesend sind – so arrangiert, dass von ersterer nur die wesentlichen Organe und von letzterer alles andere zugänglich ist. Atwoods Zuspitzung macht es schwer vorstellbar, das eine einzige Person alle Funktionen, die alle auf den Nutzen für andere ausgelegt sind, in sich vereinen könnte, ohne verrückt zu werden. Interessanterweise entfällt in Atwoods Welt (auch nicht ganz ohne Bezug zur Realität) die Aufspaltung in niedrigeren sozialen Schichten: ärmere Männer können sich, wenn überhaupt, nur eine ‚econowife‘ leisten, die alle Funktionen auf einmal erfüllt – bemitleidenswert, weil so nicht jede Rolle perfekt besetzt ist.
Auch die Hauptfigur in den beiden Erzählungen sind sehr unterschiedlich. In Atwoods Roman ist es selbst eine Handmaid, die ihren eigentlich Namen nie nennt, und die in vielerlei Hinsicht eine Mitläuferin unter vielen ist. Sie schreibt ihre Erinnerungen auf, um sie nicht zu verlieren oder sie zu rekonstruieren, wo sie schon teilweise verloren sind. Obwohl sie noch nicht ganz jede Hoffnung verloren hat, sieht sie keinen Weg, aktiven Widerstand zu leisten. Schleichend und unwillkürlich übernimmt sie auch vorherrschende Denkweisen, etwa indem sie andere Handmaids beneidet, die endlich das lang ersehnte Kind geboren haben.
Dalchers Hauptfigur ist anders: eine Neurowissenschaftlerin, die das Glück hat, dass die Regierung zufällig ausgerechnet ihr sehr spezifisches Fachwissen, das sonst niemand in diesem Maße besitzt, dringend benötigt, und das außerdem auch als Waffe zur Bekämpfung dieser Regierung einsetzbar ist (indem die Wirkung eines Aphasie-Heilmittels durch „reverse engineering“ umgekehrt [?!] wird). Dadurch wird sie zur Heldin, die die Welt rettet (ähnlich wie Dr. Jenner in Tomorrow’s Kin). Die Absicht, auf diese Weise eine starke weibliche Figur zu entwerfen, wird hier dadurch getrübt, dass sich dadurch eine unangenehme Lesart ergibt, die auch in ähnlichen Hollywoodgeschichten (etwa Imitation Game) manchmal auftaucht: ist es deswegen dumm und falsch (von den bösen Leuten, die mit „uns“ nichts zu tun haben), Frauen nicht teilhaben zu lassen, weil sie auch Genies sein und etwas Nützliches leisten können?
Dass VOX keine konsequente Sexismuskritik darstellt, zeigt sich in vielen Kleinigkeiten – etwa darin, wie ungebrochen die besondere, natürliche Mutter-Tochter-Bindung gepriesen wird, oder auf was für konservative Weise Sex beschrieben wird, selbst wenn er innerhalb einer Affäre stattfindet, die ansonsten als eine Art rebellischer und selbstbestimmter Akt inszeniert wird.
Insgesamt vermute ich, dass Margaret Atwood sich nicht so sehr über diese Hommage, wenn es denn eine sein soll, freuen würde.